Samstag, 8. November 2008

philippe garrel 1




Der Titel "Le Révélateur" bezieht sich nicht inhaltlich auf den Film, sondern auf seinen Regisseur. Philippe Garrel ist der "Offenbarer", der filmische Visionär, der auf völlig außergewöhnliche Weise sich eines schwierigen Themas nähert und sich eines surrealen Grundgedanken, indem er moderne Psychoanalyse verkehrt und ihre Bilder als Anlass zur symbolischen Auflösung der Narrative nimmt. Garrel ist ein Mitbegründer der französischen Zanzibar-Bewegung, die sich mit noch extremeren Mitteln als die nouvelle vague gegen sämtliche Konventionen des Kinos sträubte. "Le Révélateur" ist der vielleicht wichtigste und beste Film aus dieser Bewegung, ein Film, der zwar eine Geschichte eines apokalyptischen Sozialdramas vorführt, sich aber keinerlei konventioneller Mittel oder Stile bedient: Auf sehr sensiblen Schwarzweiß-Film gedreht, wurde die Szenerie nur mit einer einzigen Taschenlampe künstlich beleuchtet. So besteht das Bild fast nur aus blendendem Weiß oder aus unheilvoll verschluckendem Schwarz. Ton gibt es nicht, Garrel drehte seinen Film komplett ohne Sound. Und auch die ungewöhnliche Laufzeit von gerade mal einer Stunde steht im Gegensatz zu der Mindestlänge eines ökonomisch profitabel verwertbaren Films.

Die Anzahl der handelnden Personen werden auf drei Figuren beschränkt: Eine Familie; Vater, Mutter und Kind. Alle drei scheinen auf der Flucht zu sein. Die Gesichter der Erwachsenen sind in Entsetzen und Angst erstarrt. Gemeinsam rennen sie einsame Landstraßen und Gassen in abgewrackten Industrievierteln entlang. Die Präsenz einer Zivilisation wird angedeutet, aber nie gezeigt. Die Bedrohung bleibt ebenfalls unbekannt. Wenn die Familie sich durch eine hoch gewachsene Wiese schlägt und immer wieder schützendes Versteck unter den hohen Gräsern sucht, sehen wir ihre Verfolger nicht – doch die beklemmende Stille der leeren Tonspur lädt uns zur wilden Imagination ein: In unserem Kopf werden Töne von kreischenden Sirenen, kläffenden Polizeihunden und sich gegenseitig Befehle zublaffenden Verfolgern laut. Dass uns halbwegs vertraute und emotional engagierende Filmbilder uns zu solch einer spontanen Assoziation verleiten, ist ein weiterer Beweis dafür, dass Film in erster Linie ein visuelles Medium ist, das im Zweifelsfalle locker auf eine aurale Stimulation verzichten kann.

Hin und wieder kommt die Familie zu einer Rast. In leeren Wohnungsräumen, in einer vereinsamten Unterführung, an dem Rand einer unbelebten Straße machen sie Pause, legen sich auf weißen Laken schlafen, abwechselnd. Meist zuerst das vierjährige Kind. Doch wer glaubt, dass die gemeinsame Flucht die Familie zusammenschweißen würde, der irrt: "Le Révélateur" ist nicht nur ein Film über den Überlebenskampf einer Familie in einer undefinierten, endzeitlichen Welt, sondern auch ein sensibles Werk über die Kindheit an sich. Gleich in der ersten Szene, noch bevor der Film seinen Titel auf die Leinwand schreibt, sehen wir symbolhaft den Grund für eine gestörte Kindheit: Mann und Frau sitzen im Vordergrund, das Kind beobachtet seine Eltern von erhobener Position aus dem Zimmerhinteren. Mann und Frau nehmen beide eine Zigarette an den beiden Enden in den Mund und der Mann entzündet die Zigarette in der Mitte. Sie löst sich in der Mitte auf, die Zigarette trennt sich in zwei, brennende Glimmstummel. Nachdem beide rauchen, verlässt der Mann das Zimmer. Jene erste Szene ist Symbol dafür, dass das Kind früh seine Eltern beim Sex beobachtete. Elterliche Verbindung, und sei es nur durch eine Zigarette, ist in diesem Fall ein Ersatz für Sex in einem Film, der keinerlei Nacktheit oder geschlechtliche Zuwendungen zeigt.

Gleichzeitig zeigt der Akt des Zigaretteanzündens in der ersten Szene gleich eindeutig, dass auch das Verhältnis der Eltern ein gestörtes ist: Das Schlafzimmer ist vom Kind übernommen worden, die Privatsphäre ist zerstört. Als sie sich eine Zigarette teilen passiert das nur sekundenkurz, nachdem der überlange Tabakstengel entzwei gebrannt wurde, ist das gemeinschaftliche Erlebnis, die gegenseitliche Verbundenheit zueinander, dahin. Vater und Mutter würdigen sich während der Szene keines Blickes, wenden ihre Köpfe bewusst von dem anderen ab, scheinen Scham und Ablehnung unter der Beobachtung ihres Kindes auszudrücken. Auch das lange Zögern des Mannes in dem Türrahmen, bevor er sich letzten Endes neben seine Frau setzt, ist Indiz für Angst und Unentschlossenheit. Doch was geschehen ist, ist geschehen. Die Begierde (die Sucht nach der Zigarette, oder die sexuelle Begierde füreinander) ist ausgelebt, die eigene kinderfreundliche Zurückhaltung gebrochen (das Kind sieht seine Eltern bei der Sünde: Passivrauchen und Observation einer "Erwachsenensache": Sex oder Tabakgenuss) – das Kind ist traumatisiert (laut Psychoanalyse).

Doch das Kind revoltiert. Scheint mit seinem Teddybären und der Kamera als Verbündete dem Schicksal der eigenen Eltern entkommen zu wollen. Für das Kind, ist die Welt der Erwachsenen ein irreales Theaterschauspiel (in einer Szene agieren die Eltern direkt von einer Bühne zu dem Kind hinab), an dem es nicht aktiv teilhat. Deswegen nimmt es Reißaus – Reißaus auch aus einer familiären Einrichtung, die von ihm quasi ödipale Verhaltensweisen fordert –, fährt mit dem Zug in einen weiteren Nirgendwo-Ort. Das Dreigestirn der Familie ist zerbrochen, die Fassade ist nicht länger intakt. Am Ende scheinen die Eltern am Maschendrahtzaun einer Armee-Einrichtung gekreuzigt zu sein. Bevor das Kind seine Freiheit genießt, werden sein Instinkt und seine Müdigkeit ausgenutzt und eingefangen.

Wenn man der Editorin von "Le Révélateur" Glauben schenken mag, waren Cast und Crew während der Dreharbeiten auf LSD.



Doch man kann die unruhige Andersartigkeit des Films nicht auf eine Drogenbeeinflusste Improvisation zurückführen. Nein, "Le Révélateur" ist eine gezielte, vorher exakt konzipierte Attacke auf die Heilige Einrichtung der Familie. Ihre ethische Unangreifbarkeit, die ihr von Religion und Kirche zugeschrieben wird, wird deformiert und in einem eigentümlichen Setting eingebettet. Obwohl "Le Révélateur" die Szenerie nicht vollständig aus der subjektiven Sicht des Kindes visualisiert, mag man das nicht näher definierte Endzeitszenario als blasse, unvollständige Erinnerung des Kindes interpretierbar zu sein. "Le Révélateur" ist eine Zurückbesinnung auf die Kindheit – sowohl eines Individuums, als auch die des Filmmediums. Um seine Geschichte zu transportieren, lässt Garrel seinen Film wieder in die Kinderschuhe schlüpfen: expressionistische Schwarzweißfotografie, Stummfilm.

Man mag Garrel nicht nur wegen seiner Regiearbeit als der "Révélateur" sehen. Sein Name wird nie auf die Leinwand geschrieben. Viel eher will er uns anscheinend weismachen, er wäre der Entdecker, der Offenbarer der Filmnegative aus einer längst vergessenen Endzeit. Als wäre sein Film ein erschreckendes Homevideo aus einer unscheinbaren Zeit. Vermutlich aus der Zeit der "Revelation" – der neutestamentarischen Offenbarung des Johannes. Doch die Welt um die Familie in "Le Révélateur" ist gar nicht so apokalyptisch und verstörend, wie die Schreckensvisionen des Johannes, eher ist es jene beunruhigende, aufwühlende, pessimistische Düsternis, die sich innerhalb der Familie breit macht. Die Apokalypse findet innerhalb dieser drei Menschen statt – in einer Familie, in der selbst der Teddybär verschwörerisch zu blinzeln scheint.

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